Frank Schmidt

Frank Schmidt

IAMX machten am 21. Januar 2019 mit ihrer "Mile Deep Hollow Tour" in Leipzig Station, diesmal im Täubchenthal. Hier ein Nachbericht mit den Eindrücken des Abends.

Eine lange Schlange vor dem Eingang, Parkplätze, die rar werden - es ist wohl eines der besser besuchten Konzerte dieser Stadt. Und nein, es ist nicht Samstag, es ist Montag!
Der Saal in blaues Licht gehüllt, das Publikum zumeist dunkel. Doch vom Styling nicht so speziell, dass man gleich erraten würde, auf welche Art von Konzert sie gerade warten. Einige mit Glitzer auf der Haut, eine Frau mit kunstvoll gemaltem X übers ganze Gesicht, jetzt bekam man schon eine Ahnung..

Doch erstmal ist Geduld gefragt. Techniker laufen scheinbar planlos auf der Bühne hin- und her. Ein Mitarbeiter klebt Setlists am Boden fest, Getränke für die Musiker werden hingestellt. Ein erstes Aufbrausen, Vorfreude, Jubel. Mit IAMX-Rufen sehnt man dem Konzert entgegen.
Gut zu sehen ist die zentrale Steuereinheit, hinter der sich Chris austoben wird, seine Leitstelle, das Cockpit. Hände sind dort angeklebt, greifen von vorn nach dem oberen Rand, wie die verlängerten Hände des Publikums...
Die Spannung steigt, ein letzter Mikrofoncheck. Es läuft Hysteria von IAMX über die Soundanlage, zur Einstimmung, zum Trost für die Wartenden.

Plötzlich Nebel! Nach einer Stunde geht es endlich los! Blau, Weiß, Lichtstrahlen. Lichtgewitter. Chris Corner betritt die Bühne mit einem Kopfschmuck aus Militärmütze samt Glitzerbesatz, gekrönt von schwarzen Federn. >Alive in New Light< singt er in zwei Mikros gleichzeitig. Ein Freak, ein Künstler durch und durch. In seinem Element. Vom Spirit her in der Nachfolge der Großen der Vergangenheit, David Bowie, Iggy Pop. Ja, letztlich auch Ian Curtis...
Die Keyboarderin mit Maske, ansehnlich, spärlich bekleidet, entscheidende Stellen abgetapet. Sie, mindestens genau so euphorisch wie Chris. Die Bassistin, die alles mit sattem, treibendem Bass unterlegt. Das Schlagzeug, optisch im Hintergrund, akustisch weit vorn. Zuletzt die Videoleinwand, auf der zu jedem Lied Projektionen laufen.
Hinein in das Konzert, einem turbulenten Flug gleich, einem Abenteuertrip durch wilde Landschaften, stürmisches Wetter, gefährliche Klippen...
Das zweite Stück, >No Maker Made Me<, Chris in Extase und energiegeladenen Bewegungen, so sehr, dass ihm zum ersten Mal der Kopfschmuck herunterfällt, als könnte er tatsächlich nichts und niemanden über sich akzeptieren. The show must go on, er lässt ihn eine Weile liegen.
In >Bring Me Back a Dog< steigert er sich im Wechselgesang mit der Keyboarderin in den Song hinein. Im Video waren es weniger Hunde, als vielmehr Werwölfe.
Beim folgenden >Happiness<, einem der radiotauglichsten Titel des Abends mit klarer Songstruktur, ist Mitsingen angesagt. "I see the zombies walking down the street and it kills me/ Their happiness/ Liars! Liars!"
Bis jetzt hat sich alles immer weiter gesteigert und beim fünften Song >I Come With Knives< ist der erste Höhepunkt des Konzertes erreicht, der nicht mehr überboten werden kann. Während Chris Lichtstrahlen mit Spiegeln ins Publikum lenkt, bricht der Clubhit über uns herein, hypnotisch, überwältigend. Die Begrenzungen sind aufgehoben. Es gibt nicht mehr die Band dort, die Zuschauer hier - alle sind eins geworden, verschmolzen: alle sind der Song, die Musik, die Extase. Allein das zu erleben, hat sich der Abend gelohnt!
"Kinder und Sterne küssen und verlieren sich/ Greifen leise meine Hand und führen mich/ Die Traumgötter brachten mich in eine Landschaft/ In der Mitternacht"
Der Song >Exit< ist im Kontrast dazu ein ruhiger. Ja, das geht auch. Die Aufmerksamkeit fällt auf die Videoprojektion im Hintergrund, wo ein World Trade Center aus Jenga Bausteinen in sich zusammenfällt, dann Feuer, Rauch, Augen..
Mit >I Am Terrified< weiter abtauchen, langsame Bewegungen, wir sehen eine Frau mit Hut, eine Katze.. Ein seltenes Gefühl wird wach, ein Gefühl, wie man es von Gruftkonzerten in den 90ern kennt.
Dieses Lied ist die Überleitung zu einem ernsten Thema. Chris bedankt sich bei den Teilnehmern einer Diskussionsrunde, früher am Tag. "Thank You for coming!"
20 bis 30 Leute konnten direkt mit dem Musiker sprechen und Fragen stellen zum Thema mentale Gesundheit, das kreative Leben und was sonst über das Leben zu sagen ist. Er selbst leidet unter Depressionen und hat einen Weg gefunden, damit umzugehen. („Ich bin seit 11 Jahren in Therapie, mein Arzt heißt Chris Corner.“) Das will er mit anderen teilen.
Weiter geht es mit dem ruhigen >Sorrow<. "The tortured world wants me to hate/

But there’s a world inside/ Where my love can bury my rage" Ein Baby, ein Läufer, ein Turner, Stabhochsprung... Wird auf der Leinwand symbolisiert, wie diese Liebe wächst, sich freikämpft?
Chris stellt die Musiker vor und weiter geht es mit >North Star< wozu passend ein Sternen-Konfettiregen aufs Publikum herunterregnet. In diesem beatlastigen Stück ist auch das Schlagzeug ganz vorn dabei.
Bei >After Every Party I Die< muss ich zwangsläufig an Ian Curtis denken. Die Dämonen, die zurückkommen, wenn die Feier zu Ende ist und die Leere sich ausbreitet.
>Spit It Out<, wieder ein Ohrwurm, diesmal in einer speziellen Liveversion, die ruhig beginnt und ihr wiedererkennbarer Beat erst nach einer Weile einsetzt. Auch später gab es einen schönen Wechsel aus schnellen und ruhigen Passagen. Die Bühne im blauen Licht, eine verhüllte Frau auf der Videoleinwand, dann Lichtstrahlen, die von Spiegeln gelenkt durch den Raum fliegen. "People need Love!" - das wollten und konnten viele mitsingen.
Chris bedankt sich für den Applaus: "You're fucking awesome, thank You so much!" Dann erklärt er das Symbol auf seinem T-Shirt. Eine Hand, die Handfläche zeigt zum Betrachter, Zeigefinger und kleiner Finger hochgestreckt, die anderen beiden Finger halten ein X. Das ganze eingerahmt in die bekannten geschweiften Klammern. Soweit ich ihn verstanden habe, geht es dabei um eine Kampagne, beauty, awareness, mental illness, hope.. in Zusammenarbeit mit der You Rock Foundation („Overcoming mental illness through music“).  Der Verkaufserlös der T-Shirts hilft direkt den Betroffenen.


Das war eine Überleitung zum letzten Song dieses Blocks, dem Titelsong der Tour >Mile Deep Hollow<, mit dem sich Chris Corner bei seinen Fans bedankt, dass sie ihn aus der Depression herausgeholt haben. "Ich will Euch danken, Ihr habt mich aus einer meilentiefen Höhle herausgezogen und nach Hause gebracht. Ich liebe Euch." (auf englisch natürlich)
Übrigens spielt auch der Titel >Alive In New Light< darauf an, deshalb gab es diesen gleich am Anfang.

"Vielen Dank, Dankeschön, Good night!" Die Musiker gehen. Eine ungewohnte Stille, Leere und Dunkelheit bleiben auf der Bühne zurück. Eine Verlassenheit.
Nach wenigen Zugabe-Rufen lässt sich die Band nicht lange bitten, kommt zurück und spielt >Your Joy Is My Low<, ein Song, der mich ziemlich an Depeche Mode erinnert. "Show Me Your Hands!" Das Publikum klatscht mit. Im Video sehen wir einen Mann unter Wasser treiben, mit ausgebreiteten Armen, eine Geste der Resignation und Freiheit zugleich.
Beim nächsten Lied >The Alternative< geht es beinahe EBM-mäßig zur Sache. Im Hintergrund eine Injektionsnadel, nackte Frauen, farbige Flüssigkeiten fliegen herum, eine Zunge leckt ein Auge, Bakterienstämme wachsen.
"Would You like...?" >The Power and the Glory<, ein ruhiger Song, der tief geht. Kapseln und Tabletten fallen, eine Frau mit rotem Haar und rotem Kleid , Geldscheine fliegen, Gewalt, Kind auf Schaukelpferd, Verletzlichkeit.. "I'm waiting for Your guiding light to bring me back to the power and the glory" Das klingt schon ganz anders als „No Maker Made me“.

"I'm so proud of You! So much love!"
Zugabe!! Ein Techniker huscht über die Bühne -
"You're fucking wonderful!"

Jetzt noch einmal abheben mit >Kiss + Swallow<, die Musiker in rotes Licht getaucht, Jubel im Publikum. "Leipzig! I Could go all night!"

Zum Ende nun noch >Mercy<, Blüten öffnen sich im Zeitraffer, "Mercy" - Erbarmen, immer wieder, wie ein Hilfeschrei, "I could make Your whole world sweet, I'm on my knees." Blüten schließen sich, die Musik verstummt. Ein Drumstick fliegt ins Publikum, Schluss! Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Nachklang.
Eine von vier Händen hat sich vom Pult gelöst und ist heruntergeklappt. Fleht mit einer hilfesuchenden Geste dem schwindenden Publikum hinterher: "Bleibt bitte hier, verlasst mich nicht!", die Leere schmerzt und die Einsamkeit...

Sterne liegen am Boden, Party is over.
And After Every Party I Die.

Ich bin Chris.
I am X.

 

GALERIE